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Näher als ich dachte

Sieht man vom nördlichen Ende der fast rechteckigen Fläche von Auschwitz-Birkenau, dem Lager Auschwitz II, über die weitläufige Fläche, hinter den Horizont der gegenüberliegenden Zaunanlage, dann erkennt man dahinter, 80 Kilometer entfernt, Berge.

Die Stallanlagen, in die hunderte von Menschen zum nächtigen gepfercht wurden, stehen nicht mehr. Nur Kamingerippe ragen in Reih und Glied aus dem Boden; dann vor diesem gegenüberliegenden Grenzzaun noch einige Backsteinbaraken des ehemaligen Frauenlagers.

Es beginnt zu nieseln und an diesen zwei Tagen kann ich mich einige Male zusammenreißen, nicht zu klagen, müde zu sein, nass zu sein, Richtung Hunger zu schielen.

Michal führt uns an zwei Tagen, erst durch das Museum von Auschwitz I, dann über die weitläufige Fläche von Birkenau.

Michal hört kaum auf zu sprechen. Wir hängen dennoch an jedem Wort. Worte, die Geschichte vermitteln, „Fakten“, wie er sagt, „nicht Emotionen“. Und immer wieder zeigt er auf Fotos von Ermordeten, erzählt von Begegnungen mit Überlebenden: „Wir müssen verstehen, dass das Menschen sind, die ein Leben hatten, so wie wir auch.“

Nur noch eine Gaskammer und damit verbundenes Krematorium sind in Auschwitz-Birkenau vollständig. Mich trifft die metallene Anlage, extra dazu gebaut, um Leichnamen ins Krematorium schieben zu können.

Im Lager Auschwitz I wurden ehemalige Kasernengebäude zur Internierung verwendet. In diesen Gebäuden sind nun Ausstellungen zu sehen. Eines ist für Studiengruppen unrenoviert zu besichtigen. In dessen Treppenhaus ist der Teil der Wand bis Schulterhöhe in rot-braun abgesetzt. Darüber zeichnet ein gelb-rotes Muster die Mauer und ich frage mich, ob das Treppenhaus schön ist.

Da ist ein anderes Gebäude mit den berühmt gewordenen Ausstellungen von Habseligkeiten; Schuhe, die so aussehen, als wären sie gerade noch getragen worden, Koffer, Kochschüsseln. Haufen an Schuhen, Koffern und Kochschüsseln. Dort sind auch die Berge rasierter Haare ausgestellt. Berge, die einmal um den Raum herum reichen, die sich auftürmen und nach Befreiung des Lagers in Säcken gefunden wurden, bereit zur Weiterverarbeitung versendet zu werden. Berge von Haaren, die von mutmaßlich 40 000 Ermordeten stammen. Mich trifft besonders die Ausstellung der Prothesen, Gehhilfen; Ein Wirrwarr getragener Extremitäten, an Stützen eines Lebens. Viele dieser ausgestellten Dinge wurden Juden gestohlen, die im ersten Weltkrieg fürs Kaiserreich gekämpft hatten.

Wir treffen Teresa Wontor-Cichy für einen Vortrag über die in Auschwitz-Birkenau verfolgten und ermordeten Sinti und Roma, und Zeugen Jehova. Sie berichtet von der Härte ihrer Arbeit, der Schwere der Dinge, die sie jeden Tag liest und sieht. Die Historikerin sagt, es sei ein Balanceakt nach Hoffnung zu suchen und nicht zu beschönigen.

Wontor-Cichy ist eine hagere Frau, ernst. Eigentlich müssen wir los zum letzten Bus nach Krakau. Aber sie möchte uns noch von denjenigen in Auschwitz-Birkenau berichten, die die Nazis hierher wegen Homosexualität deportierten - meist, nachdem Partner sie verpfiffen hatten. Sie fragt: „Haben wir Zeit für noch eine Gruppe?“ Wie sollen wir keine Zeit haben?

Am nächsten Tag treffen wir Paweł Sawicki, den Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Gedenkstätte Auschwitz, der auf Social-Media jeden Tag 12 Menschen an deren Geburtstag gedenkt, die in Auschwitz-Birkenau inhaftiert waren oder ermordet wurden. Paweł hat eigentlich gerade Urlaub. Aber es ist ihm wichtig, mit einer Gruppe junger Journalist:innen zu sprechen.

Früher, sagt Paweł, hatten sie in der Gedenkstätte das Ziel, zu erinnern. Seit einigen Jahren reicht ihnen das nicht mehr. Jetzt wollen sie in öffentliche Diskussionen eingreifen. Wie damals als sie einer Schule eine Ausstellung schickten, nachdem ein Foto im Internet viral ging, auf dem etwa 50 Jungs den Hitlergruß zeigten. Und sie rufen Besucher:innen jetzt auch direkt zu Zivilcourage auf. Dazu, nicht daneben zu stehen und zuzusehen, wenn etwas passiert.

Immer wieder kommt die Frage auf, wer was wann gewusst hat. Paweł ist skeptisch ob der Relevanz der Frage. Der polnische Widerstand habe Unterstützungsanfragen aus dem Lagerwiderstand abgewiesen, wegen der Deutschen Übermacht. Erst 1944 hätten die USA das Lager von Italien aus mit Flugzeugen überfliegen können. Und Paweł verweist auf Lager von heute.

In einigen Monaten beginnt die Gedenkstätte den Versuch, virtuelle Führungen anzubieten, bei denen übers Internet vernetzt live von vor Ort aus geführt wird.

Sie versuchen alles, um die Erinnerung wach zu halten. Paweł rechnet nicht mit den Millionen Besucher:innen, die die Gedenkstätte besucht haben. Sondern mit den Millionen, die sie noch nicht besucht haben.

Es hat bis zum Flugzeug gedauert, um diese Erlebnisse aufzuschreiben. Mit Blick auf die Wolken und die untergehende Sonne vergeht der Flug wie im Flug. Auschwitz bleibt näher als ich dachte.

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