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Wohnen und mit Bohrer tanzen

Ich fahre mit dem Fahrrad durch den Wedding und meine müde Muskelkraft treibt die schweren, unplattbaren Reifen Umdrehung für Umdrehung dem Kreuzberg entgegen. Es ist nachts. Vereinzelte Blechbüchsen rauschen an mir vorbei. Ich höre Deutschlandradio, wie früher, einfach einschalten und Inhalt. Es läuft Fazit, das Kulturmagazin, als ich einschalte und Gabi Wuttke spricht mit Jürgen Kaube über den soeben verstorbenen Literaturtheoretiker Karl Heinz Bohrer und darüber, dass es der Karl Heinz Bohrer gut fand, wenn jemand die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Bohrer machte die geistige Erschütterung durch die Sprache als eine Energie aus, die ein Publikum aus der Gewöhnung austreten lässt. Erst dieses Ende der Langeweile bringt ihm zufolge den bürgerlichen Alltag durcheinander.

Wir hatten keinen Zwang zum Ausstieg aus der Gewöhnung, keine Notwendigkeit Raumerfahrung zu vermitteln, als wir uns auf unser neues Wohnmodell einigten: Eine Dreizimmeraltbauwohnung mit Stuck, in bester Lage, einer sehr kleinen Küche, Balkon, drei gemeinsam Wohnenden und dem Manko der strukturellen Ungleichverteilung der Ausgangsbedingungen.

Ein Zimmer ist klein und düster. Zwei andere sind groß und hell und zueinander Durchgangszimmer. Die Durchgangszimmer stehen gemeinsam auf, hören einander nicht zuletzt beim Fernsehen und verlangen offene Diskretion. Wie leben also drei Menschen in einer solchen Wohnung miteinander? Ein ökonomisches Allokationsproblem öffentlicher Güter:

  1. Alle zahlen die gleiche Miete, bewohnen ein festes Zimmer und über die Dauer staut sich Unmut an.
  2. Die Nachteile (Größe, Durchgang, Licht) werden im Preis reflektiert. Das helle, große, hintere Durchgangszimmer kann sich nur leisten wer erbt.
  3. Eine Person zieht aus. Zwei verbleiben mit teurerer Miete und einer geschädigten Beziehung.
  4. Umbaumaßnahme: Durchbruch vom hinteren Durchgangszimmer in den Flur. Statisch unmöglich.
  5. Seit 19 Monaten rotieren wir durch die Zimmer. Zu Beginn monatlich, jetzt sobald eine:r der drei wechseln will. In diesem also wiederkehrenden Ritual räumen wir Betten und Schränke, manchmal auch Tische und Stühle, niemals aber Sofas und Bücherregale von hier nach dort und von dort nach dort, dekorieren die Wände um, sortieren aus und saugen an entlegenen Orten. Jedes Mal entstehen neue innenarchitektonische Formationen: Ein neuer Raumteiler hier, eine Büroecke dort, das Klavier ans Fenster oder die Pflanzen inszeniert. Das Bett unter die Hochebene, das Bett auf die Hochebene. Etwa zwei Stunden wird jeweils geräumt. Wir zahlen alle die gleiche Miete, teilen Vor- und Nachteile und lernen die Räume immer wieder neu kennen. Der regelmäßig unerwartete Ausbruch innerhalb der eigenen Wohnung durchbricht die langsame Verrostung jeglichen Wohnalltags. Die Verhältnisse tanzen ständig.
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